Meeresspiegel

Mit der Errichtung der Kanu-Installation „Meeresspiegel“ setzt Erwin Lackner seine künstlerische Reflexion der Flucht- und Migrationsproblematik im Bereich der „Mittelmeer-Routen“ im Anschluss an das bereits 2019 fertiggestellte „Kreuzfahrt“-Objekt fort. In beiden Arbeiten kommt schon in den Titeln die im wahrsten Sinne des Wortes paradoxe, wenn nicht absurde und menschlich wie ethisch scheinbar völlig hoffnungslose Situation dieser Problematik zum Ausdruck. Die Mehrdeutigkeit der Begriffe einer „Kreuzfahrt“ oder des „Meeresspiegels“ konnotieren gleichsam die erschreckende „Abgründigkeit“ des „Humanen“ bzw. der „Humanität“ – wie schlanke Kanus kippt das Humane angesichts der Migrationsbewegungen nur allzu schnell in die Abgründe und Tiefen des Inhumanen!

Bei dem Objekt „Meeresspiegel“ brechen die Verstrebungen des Bootskörpers, die eigentlich Stabilität und Sicherheit des schlanken Kanu-Volumens garantieren sollten, offenbar zu einem Rippentorso auf und werden so beinahe zum „Brustkorb“ eines Menschen – Bootskörper und Mensch scheinen austauschbar und eine Einheit zu sein – zumindest sind sie vom gleichen Schicksal des Kenterns und Untergangs bedroht. Dieser Eindruck wird durch die „aufgeschlitzte“ Bootshaut und die gewendete, etwas aufgerichtete Stellung, die das Kentern des Kanus anzeigt, sinnbildlich bestätigt. All das „spiegelt“ sich sowohl horizontal wie auch vertikal in einer glatten metallischen „Meeresoberfläche“, die gleichzeitig auch als absolute Grenzlinie fungiert – eine Grenze, die über Leben und Tod entscheidet, je nachdem, ob sich jemand über oder unter dieser spiegelnden Wasserlinie befindet.

Aber dieser „Meeresspiegel“ wird auch zu einer subtilen Spiegelung von uns als scheinbar „unbeteiligte“ Betrachter und Betrachterinnen der „Szenerie“ – auch wir können uns in den spiegelnden Flächen erkennen, wir werden gleichsam in die „Szenerie“ mit einbezogen! Wir können uns selbst im Spiegel des Meeres erkennen, in all jenen Schicksalen ertrinkender Kinder, Frauen und Männer … wir erkennen (vielleicht), dass die Ereignisse im Mittelmeer ja nur die „logischen“ Konsequenzen bestimmter Haltungen, Handlungen bzw. auch unterlassener Handlungen sind, die jene Kultur und Gesellschaft hervorbringt, zu der wir gehören.

Letztendlich stellt der Künstler Erwin Lackner sowohl mit der Installation „Meeresspiegel“ wie auch bereits mit dem Objekt „Kreuzfahrt“, die kritische Frage nach der ethischen Bedeutung der Begriffe „Menschlichkeit“ bzw. Humanität. Die „Kreuzfahrt“ zeigt dies durch zwei „über Kreuz“ miteinander verschraubte Kanus, die derart auch nicht mehr steuerbar sind. Damit verkehrt sich das übliche Verständnis des touristischen Vergnügens einer „Luxus-Kreuzfahrt“ in den Alptraum einer meist aussichtslosen Flucht, die nur allzu oft in den Tod oder in die Illegalität führt. Durch die damit angedeutete absolute Gegensätzlichkeit dieser beiden Formen einer Kreuzfahrt, die in den letzten Jahren gleichsam „nebeneinander“ im Mittelmeer stattfinden, verweist der Künstler auf die unlösbare Paradoxie und vor allem auch auf die ethische Fragwürdigkeit dieser Situation.

Ob das, was wir als „Humanität“ (d. h. als Menschlichkeit bzw. Menschenrechte etc.) definieren, nun ein religiöser oder gesellschaftlich-ethischer Wert ist, scheint im Grunde nebensächlich zu sein – in Frage steht vielmehr, wie viel „uns“ Europäern der moralische Wert der Menschlichkeit wert ist! Auch wenn es oftmals äußerst schwer erscheint, aber „Menschlichkeit“ sollte uns sehr viel wert sein! Nur „Menschlichkeit“ macht uns zu Menschen – so schwer dies zu verstehen und vor allem zu realisieren auch sein mag!

Erwin Lackners Installationen konfrontieren uns in diesem Sinne vor allem mit der Frage an uns selbst: Wie verhält es sich mit „unserer“ Menschlichkeit?

Dr. Erwin Fiala, Kunstphilosoph

MEERESSPIEGEL, 2024
Objektinstallation, Aluminium, Nirosta
416 x 332 x 150 cm
Pfarrhof Gleisdorf